Interview
Interview mit Max Gilgenmann
Anlässlich der Berlin Fashion Week / Januar 2021 Saison haben wir mit Max Gilgenmann gesprochen. Max Gilgenmann ist der Gründer von studio MM04 und darüer hinaus Designer, Berater und Nachhaltigkeitsexperte.
Der 202030 Berlin Fashion Summit findet erstmalig statt. Welche Vision hat Sie bei der Entstehung inspiriert?
Als erstes möchte ich betonen, dass es sich hier nicht um meine Vision handelt, sondern um eine gemeinsame Vision, die wir vom studio MM04 mit dem Beneficial Design Institute und der Innovationsagentur Sqetch entwickelt haben. Wir sind uns einig, dass die Neuausrichtung der Berliner Fashion Week vielversprechende Chancen beinhaltet — für die lokalen Kreativen mit Mode- und Nachhaltigkeitsbezug ebenso wie für ansässige internationale Plattformen wie Fashion Revolution, Highsnobiety, Reference Studios oder Wear It und nicht zuletzt auch für die Stadt Berlin, deren immense kulturelle Vielfalt im Rahmen der Fashion Week bisher kaum zur Geltung kam.
Der Namen „202030“ ist eine Anspielung auf all die vergangenen und aktuellen Nachhaltigkeits- und Klimaziele. Der 202030 Berlin Fashion Summit unterstreicht die Bedeutung gemeinsamer Visionen und konkreter Zielwerte der Modeindustrie und vermittelt, wie wichtig die kritische Begleitung der Ziele von Anfang bis Ende ist. Ein wenig nehmen wir den derzeitigen Fokus auf die Zahlen auf die Schippe, aber gleichzeitig wissen wir natürlich, dass es solche Vereinfachungen braucht, um Menschen für Visionen gewinnen zu können. Und zu guter Letzt steht 202030 auch dafür, dass es neben einem gemeinsamen Ziel vor Allem einen gemeinsamen Weg braucht!
Der 202030 The Berlin Fashion Summit wird als internationales Diskussionsforum und Netzwerk konstruktiv kritisch die jeweils aktuellen Nachhaltigkeitsdebatten reflektieren und dabei insbesondere darauf achten, dass einerseits Kultur und Wissenschaft als wichtige Stakeholder mehr Gehör bekommen. Wir denken, dass sinnhafte Lösungsansätze systemisch, kollaborativ und glokal angegangen werden müssen. Hierbei beschreiben die beiden Säulen „Envision“ und „Encouragement“ gut unsere Grundsätze.
Wie können Nachhaltigkeit und Digitalisierung miteinander vereint werden?
Es gibt keine ganzheitliche Nachhaltigkeit ohne Digitalisierung und es gibt keine sinnvolle Digitalisierung ohne Nachhaltigkeit. Aus unserer Sicht müssen Nachhaltigkeit und Digitalisierung nicht erst miteinander vereint werden, denn sie waren nie getrennt. Und das ist ein wichtiger Knackpunkt.
Als Gesellschaft bauen wir Expertise in verschiedenen Fachgebieten getrennt voneinander auf, deshalb ist es umso wichtiger, das Wissen zusammenzubringen. Nur so können wir gemeinsam erfolgreich eine nachhaltigere Zukunft gestalten. Dazu braucht es mehr Vermittler oder eigentlich „Übersetzer“ zwischen verschiedenen Fachrichtungen, zwischen Kulturkreisen oder zwischen Generationen sowie sehr grundsätzlich zwischen Unternehmen und Zivilgesellschaft und der Politik. Konkret
haben wir dazu ein Format entwickelt, das Policy Lab, welches im Pre-Summit Programm läuft. Dort stellen Politiker ihre Initiativen vor, wie Vertreter der Zivilgesellschaft Politik beeinflussen können.
Kann Nachhaltigkeit ohne Digitalisierung funktionieren?
Meine Antwort ist eine Gegenfrage: Wer wünscht sich ernsthaft Digitalisierung ohne Nachhaltigkeit?
Warum haben Sie sich als Standort Berlin ausgesucht?
Mit meiner Geschäftspartnerin Magdalena Schaffrin haben wir für unser studio MM04 den Standort Berlin gewählt, weil wir beide schon lange hier leben und uns Berlin sehr inspiriert. Und zwar sehr lebhaft und direkt. Zudem vereint Berlin Demokratie, Freiheit und Diversität in erstaunlich kultiviert ausgelebter Ambivalenz.
Für den 202030 Berlin Fashion Summit ist auch die starke Nachhaltigkeitsszene, die inzwischen zu einem eigenen Ökosystem herangewachsen ist, von großer Bedeutung. Das Ökosystem ist geprägt durch kritisches und vernetztes Denken, welches sich hier nicht nur im Bereich der Wissenschaftsexzellenz, sondern auch in der Kreativindustrie und im Aktivismus vieler Bürger wiederspiegelt.
Inwiefern muss ein Umdenken bei den Produzentinnen und Konsumentinnen stattfinden, um die Modewelt langfristig nachhaltiger zu gestalten?
Das Umdenken ist schon längst im Gange und wie auch in anderen Bereichen verstärkt die Covid-19 Pandemie die Entwicklung hin zu einem stärkeren Nachhaltigkeitsbewusstsein bei Konsumenten. Die spannende Frage ist jetzt: wie schaffen es Industrie, Politik, Verbände und weitere relevante Stakeholder die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das der eindeutige Wunsch nach einem nachhaltigen Lebensstil auch gelebt werden kann. Diese Rahmenbedingungen müssen gemeinsam entwickelt, geschaffen und etabliert werden.
Warum ist Berlin als Standort für deutsche Mode so wichtig?
Berlin ist ein Melting Pot für unterschiedliche Kulturen und Subkulturen, die zu wichtigen Inspirationsqellen für Kreative, also auch Modedesigner, zählen. Zudem gibt es hier ein ausgeprägtes Ökosystem für Nachhaltigkeit, das Thema wird in Berlin an vielen Orten konkret gelebt. In Berlin gibt es die Nähe zur nationalen und oft auch europäischen Politik, die insbesondere im Kontext der nochmals stark an Bedeutung gewinnenden Nachhaltigkeitsdebatten an Bedeutung gewinnt, aktuell beispielweise rund um das Thema Sorgfaltspflichten entlang internationaler Lieferketten. Es ist zu erwarten, dass hier in den nächsten Jahren viele wichtige richtungsweisende Gespräche stattfinden werden.
Und in Bezug auf Nachwuchs sollten wir in Zukunft auch das gute Dutzend Schulen und Hochschulen, die jedes Jahr unzählige junge Talente ausbildet, nicht vergessen und aktiver einbinden — denn dort wird die Zukunft der Industrie ausgebildet. Bisher hat die hohe Start-up-Dichte sowie Innovationsdynamik in Berlin nur wenige Schnittpunkte mit der Mode- und Textilindustrie. Wir gehen davon aus, dass sich das schnell ändern wird. Berlin ist gut aufgestellt, um eines der einflussreichsten Zukunftsfelder mit zu erfinden: Virtual Fashion.